Klimasensible Beratung: Mehr als nur Chichi
Der Sommer 2023 war der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1940. Was bedeutet das für die Arbeitsmedizin? Dr. Elisabeth Boßlet hat sich auf klimasensible Beratung spezialisiert.
Frau Dr. Boßlet, was wollen Sie mit der klimasensiblen Beratung erreichen?
Drei Dinge: Die Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fördern, und dabei gleichzeitig einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Dazu gehört auch die Beratung der Betriebe zum Thema Nachhaltigkeit und Hitzeschutz, unter anderem im Rahmen von BGM-Maßnahmen. Außerdem geben wir uns Mühe, unsere Praxis so nachhaltig wie möglich zu führen.
Wie geht das?
Starten wir mit der Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Hier bestimmen drei Themen die Beratung, je nachdem, was mein Gegenüber braucht: „Ernährung“, „Mobilität“ und „Handlungsfähigkeit“.
Mit Menschen mit Diabetes, Herzkreislaufproblemen oder Übergewicht bespreche ich beispielsweise, wie sie ihre Ernährung umstellen können. Eine pflanzenbasierte, wenig fleischhaltige Kost gemäß der Planetary Health Diet beispielsweise ist gesund und minimiert zugleich ihren persönlichen CO2-Fußabdruck.
Gleiches gilt beim Thema „Mobilität“. Laut Bundesumweltamt ist die Hälfte unserer täglichen Wege weniger als fünf Kilometer lang. Die kann man gut mit dem Fahrrad oder zu Fuß bewältigen.
Und die Handlungsfähigkeit?
Viele Beschäftigte, insbesondere Outdoor-Worker, sind direkt vom Klimawandel betroffen: Landwirte, Gärtnerinnen, Forstwirte u.v.a.. Sie haben Angst, fühlen sich den Veränderungen ohnmächtig ausgeliefert. Dabei handelt es sich um keine Angststörung im psychiatrischen Sinne, sondern um realistische Sorgen, die sie psychisch belasten. Das Phänomen nennt man auch „Solastalgie“ oder „climate anxiety“. Wichtig ist, diesen Menschen zuzuhören, ihre Sorgen ernst zu nehmen, sie aus der eigenen Ohnmacht herauszuführen, indem man Handlungsoptionen aufzeigt. Beispielsweise, wie sie ihr eigenes Leben umstellen, um selbst einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.
Ein weiteres Ziel lautet, etwas für den Klimaschutz zu tun.
Als Arbeitsmedizinerin kann ich Hunderte von Beschäftigten erreichen, über die Zusammenarbeit mit Arbeitgebern und Betriebsräten direkt auf die Gestaltung von Arbeitsabläufen und Unternehmensstrukturen einwirken. Wenn beispielsweise in der Kantine das Ernährungsangebot gemäß der Planetary Health Diet umgestellt wird, wird der Co2-Ausstoß signifikant reduziert. Gleiches gilt bei der Mobilität. Arbeitgeber können die Bereitschaft ihrer Mitarbeitenden, auf das Auto zu verzichten, direkt beeinflussen: durch vergünstigte Jobtickets für Bus und Bahn, durch Leihräder oder Ladestationen für E-Bikes auf dem Firmengelände.
Nicht zuletzt wollen Sie mit gutem Beispiel vorangehen.
In unserer Praxis haben wir die Abläufe so umgestellt, dass wir Energie und Müll sparen: Wir haben die Viertage-Woche eingeführt, um Anfahrtswege und Heizkosten zu reduzieren. Ich kaufe für die Praxis in großen Mengen ein, um Verpackungsmaterial und Logistikkosten zu sparen. Ich achte beim Einkauf auf Regionalität und ökologische, recycelte Materialien, beispielsweise verwenden wir biologisch abbaubare Handschuhe und Urinbecher.
Und Sie engagieren sich als Botschafterin: Sie werden über das Thema beim VDBW-Ärztekongress sprechen.
Ich bin in verschiedenen ärztlichen Gremien unterwegs, das Thema liegt mir sehr am Herzen. Ich habe kleine Kinder und sorge mich um deren Zukunft. Wenn man so will, war auch ich in einer gewissen Solastalgie gefangen: Ich fühlte mich ohnmächtig, wusste nicht, was ich als Einzelperson bewirken kann. Dann entdeckte ich meine ärztliche Multiplikatoren-Funktion: Vor zwei, drei Jahren verhielten sich die meisten Betriebe gegenüber dem Thema noch hochskeptisch. Sie hatten einfach andere Sorgen: Corona, hohe Energiekosten, Fachkräftemangel. Dennoch gelingt es mir immer mehr, sie für das Thema zu gewinnen. Das macht mich dann stolz und glücklich.
Kommen Sie vorbei:
Dr. Boßlet hält einen Vortrag „Klimakrise und Arbeitswelt – Betriebsärztliche Handlungsoptionen mit besonderer Berücksichtigung einer nachhaltigen Praxisführung“ auf dem Jahreskongress des VDBW – Verband der Deutschen Betriebs- und Werksärzte vom 4. bis 7. Oktober 2023 in Freiburg